Physiker veröffentlichen erste Ergebnisse auf “arXiv”
Daten von XENON1T, dem weltweit empfindlichsten Dunkle-Materie-Detektor, enthalten einen ĂŒberraschenden SignalĂŒberschuss. Das haben die Mitglieder der XENON-Kollaboration unter Beteiligung der WestfĂ€lischen Wilhelms-UniversitĂ€t MĂŒnster (WWU) heute bekannt gegeben. Sie behaupten aber nicht, Dunkle Materie gefunden zu haben, sondern betonen, dass die Quelle dieses unerwarteten Signals noch nicht vollstĂ€ndig verstanden sei. Es könnte von einer winzigen Menge Tritium (ĂŒberschwerer Wasserstoff) stammen, aber auch ein Hinweis auf etwas Spannenderes sein: die Existenz neuer Teilchen, den theoretisch vorhergesagten solaren Axionen, oder eine bisher unbekannte Eigenschaft von Neutrinos.
XENON1T war von 2016 bis Ende 2018 im Gran-Sasso-Untergrundlabor des Istituto Nazionale di Fisica Nucleare (INFN) in Italien in Betrieb. Es diente primĂ€r der Suche nach Teilchen der Dunklen Materie, die 85 Prozent der Materie im Universum ausmacht, fĂŒr die es aber bisher nur indirekte Hinweise gibt. XENON1T hat zwar keine Dunkle Materie entdeckt, aber weltweit die beste SensitivitĂ€t fĂŒr die Suche nach WIMPs (Weakly Interacting Massive Particles) erreicht, die zu den theoretisch bevorzugten Kandidaten fĂŒr Dunkle Materie gehören. Die sehr hohe SensitivitĂ€t von XENON1T erlaubt es darĂŒber hinaus, nach verschiedenen neuen Teilchen und bisher unbeobachteten Prozessen zu suchen. So konnte die XENON-Kollaboration im vergangenen Jahr die Beobachtung der seltensten jemals direkt gemessenen Kernumwandlung in der Fachzeitschrift âNatureâ publizieren.
Der zur Suche nach seltenen Ereignissen optimierte XENON1T-Detektor enthielt 3,2 Tonnen hochreines, bei minus 95 Grad Celsius verflĂŒssigtes Xenon, von denen die innersten zwei Tonnen als Nachweismedium dienten. Fliegt ein Teilchen durch die FlĂŒssigkeit, kann es mit den Xenon-Atomen zusammenstoĂen, dabei schwache Lichtsignale auslösen und Elektronen aus dem getroffenen Xenon-Atom schlagen. Da die meisten Wechselwirkungen auf bekannte Teilchen zurĂŒckgehen, diente eine Vielzahl von aufwendigen Methoden dazu, solche störenden Hintergrundereignisse auf ein bislang unerreicht niedriges Niveau zu senken. Die verbleibende Anzahl von Hintergrundereignissen haben die Wissenschaftler sehr sorgfĂ€ltig bestimmt. Beim Abgleich der XENON1T-Daten mit dem Hintergrund fanden die Forscherinnen einen ĂŒberraschenden Ăberschuss von 53 Ereignissen ĂŒber die erwarteten 232 Ereignisse.
Was ist der Ursprung dieses Signals?
Eine Möglichkeit könnte ein bisher unerkannter Hintergrund sein, und zwar die Anwesenheit extrem kleiner Mengen von Tritium im flĂŒssigen Xenon. Tritium, ein radioaktives Wasserstoffisotop mit zwei extra Neutronen, zerfĂ€llt spontan unter Aussendung eines Antineutrinos sowie eines Elektrons mit einer Energieverteilung Ă€hnlich der beobachteten. Wenige Tritiumatome auf 10ÂČâ” Xenon-Atome (das entspricht etwa 2 Kilogramm Xenon) wĂŒrden genĂŒgen, um das Signal zu erklĂ€ren. Allerdings gibt es derzeit keine unabhĂ€ngigen Messungen, die die Anwesenheit derart winziger Mengen Tritium im Detektor bestĂ€tigen oder ausschlieĂen könnten. Ob diese ErklĂ€rung fĂŒr das beobachtete Signal zutrifft, muss deshalb offenbleiben.
Eine weitaus spannendere ErklĂ€rung wĂ€re die Existenz eines neuen Teilchens. Das gemessene Energiespektrum gleicht demjenigen, das fĂŒr in der Sonne erzeugte Axionen erwartet wird. Axionen sind hypothetische Teilchen, die vorgeschlagen wurden, um eine in der Natur beobachtete Symmetrie der KernkrĂ€fte zu verstehen. Die Sonne könnte eine starke Quelle von Axionen sein. Diese solaren Axionen sind zwar keine Dunkle-Materie-Kandidaten, aber ihr Nachweis wĂ€re die erste Beobachtung einer sehr gut motivierten, aber noch nicht gefundenen Klasse von Teilchen. Dies hĂ€tte groĂe Bedeutung fĂŒr unser VerstĂ€ndnis von fundamentaler Physik, aber auch von astrophysikalischen PhĂ€nomenen. Im frĂŒhen Universum erzeugte Axionen könnten zudem eine Quelle fĂŒr Dunkle Materie sein.
Alternativ könnten auch ĂŒberraschende Eigenschaften von Neutrinos hinter dem unerwarteten Signal stecken. In jeder Sekunde durchqueren Billionen von Neutrinos ungehindert den Detektor. Als eine ErklĂ€rung kĂ€me in Frage, dass das magnetische Moment der Neutrinos gröĂer ist als vom Standardmodell der Elementarteilchenphysik vorhergesagt, was ein klarer Hinweis auf âneue Physikâ wĂ€re.
Von allen drei ErklĂ€rungen zeigen Signale solarer Axionen die beste Ăbereinstimmung mit den gemessenen Daten. Allerdings ist die statistische Signifikanz von 3,5 Sigma (das heiĂt mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Zehntausendsteln handelt es sich bei dem Signal um eine zufĂ€llige Fluktuation, die somit nicht völlig ausgeschlossen ist) zwar recht hoch, aber nicht hoch genug fĂŒr eine Entdeckung. Die beiden anderen ErklĂ€rungen sind mit 3,2 Sigma Ă€hnlich gut mit den Daten vereinbar.
Nach dem Umbau von XENON1T zu XENONnT mit der dreifachen aktiven Detektormasse und geringerem Hintergrund werden bald noch bessere Daten zur VerfĂŒgung stehen. Die Mitglieder der XENON-Kollaboration sind zuversichtlich herauszufinden, ob dieses ĂŒberraschende Signal nur eine statistische Fluktuation, eine weitere Hintergrundkomponente oder etwas bei weitem Spannenderes ist: ein neues Teilchen oder eine Wechselwirkung jenseits der bekannten Physik.
Förderung und beteiligte Institutionen:
Die Forschung der deutschen Gruppen bei XENON wird im Wesentlichen von der Max-Planck-Gesellschaft und der Verbundforschung des Bundesministeriums fĂŒr Bildung und Forschung (BMBF) finanziert.
In der XENON-Kollaboration arbeiten 163 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 28 Institutionen in elf LĂ€ndern zusammen. Aus Deutschland sind fĂŒnf Institutionen maĂgeblich beteiligt. Das Max-Planck-Institut fĂŒr Kernphysik in Heidelberg war fĂŒr die Lichtsensoren, den Nachweis geringster Spuren RadioaktivitĂ€t im Detektormaterial und im flĂŒssigen Xenon verantwortlich, die UniversitĂ€t MĂŒnster entwickelte das Tieftemperatur-Destillationssystem zur Entfernung von radioaktiven Verunreinigungen aus dem flĂŒssigen Xenon sowie ein allgemeines Xenon-Reinigungssystem, die UniversitĂ€t Mainz war fĂŒr das Myon-Vetosystem verantwortlich und hat zum Xenon-RĂŒckfĂŒhrungs- und Speichersystem wesentlich beigetragen, und die UniversitĂ€t Freiburg war fĂŒr den Bau des Detektors und die Datenerfassungselektronik verantwortlich. Alle Institute, zu dem seit Kurzem auch das Karlsruher Institut fĂŒr Technologie zĂ€hlen, sind an der Datenanalyse beteiligt.
Originalpublikation:
Observation of Excess Electronic Recoil Events in XENON1T, XENON Collaboration, arXiv
Quelle: Pressemitteilung / Pressestelle der UniversitĂ€t MĂŒnster (upm)